Text
Bettina Carl
Einleitung
Nishni
Novgorod
Izhevsk
Jekaterinburg
Samara
Saratov
Ausstellung
Text
Peter Funken
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29.9.
Wenn man genauer hinsieht, sind die russischen Städte doch alle sehr
eigen. Natürlich ist die Landschaft immer wieder anders (Berge, keine
Berge, Wolga, keine Wolga), auch die Altstädte, die es, zumindest
im europäischen Teil, allen gesammelten Anstrengungen von Kommunisten
und Radikalkapitalisten zum Trotz immer noch gibt, haben jeweils einen
ganz eigenen Charakter sehr auffällig zum Beispiel ist, daß
es in manchen Städten an jeder Ecke Kwas zu kaufen gibt aus großen
gelben Eisenwagen (Ishewsk, Saratow, Nishni Nowgorod), in anderen dagegen
gar nicht (in Moskau konnte ich nicht einen Stand entdecken, und auch
in Samara haben Kwasjunkies keine gute Zeit). Und die Reklamezettel: Die
Ishewsker Freude an Reisewerbungen habe ich schon beschrieben, hier in
Saratow dagegen scheint es Liebhaber kleiner gelber und rosa Papierstückchen
zu geben, halbpostkartengroß, auf denen entweder (auf der Straße)
die eigene Wohnung zum Verkauf angeboten wird oder eine andere gesucht,
oder aber (in und an Hauseingängen) auf noch kleineren Zettelchen
Mädchen beworben werden: Häschen, Party, Marina. Und da reicht
nicht einmal Marina, nein, ganz wie sichs in der Werbebranche gehört,
klebt sie 50-mal an der Wand, denn: Vom Westen lernen heißt siegen
lernen.
Natürlich ist auch Saratow voller Müll, und wenn ich erzähle,
woher ich komme, ist die erste Reaktion immer noch: Ah, schön dort,
nicht wahr, da ist es sauber. Aber entweder habe ich mich mittlerweile
an vieles gewöhnt, an den Autogestank zum Beispiel oder an die eigentlich
wirklich entsetzlichen weißen Ziegelhäuser, die in allen erdenklichen
Formen und Größen Rußland bevölkern oder
aber Saratow ist wirklich schöner als andere Städte. Ich neige
ja zu letzterem. Im Zentrum gibt es richtige Grünanlagen, einen fast
englischen Garten, dem nicht mal die russische Sitte des Sommerparks etwas
anhaben kann heißt also Kettenkarussel, Riesenrad, Kindereisenbahn
und diverse andere Attraktionen (die übrigens auch schon fast westlich
aussehen, nur das obligatorische Riesenrad ist noch sowjetisch-schlicht
in gelb und rot gehalten, wie in jeder Stadt); der Springbrunnen hat Mitte
August auch mal funktioniert, und sogar eine Fußgängerzone
mit richtigen Blumenbeeten gibt es, aber die findet sich auch in Samara.
Alte Steinhäuser stehen hier in Saratow, mit dicken gewundenen Säulen,
was in Rußland so gar nicht normal ist. Und natürlich Holzhäuschen,
hier habe ich das erste Mal gesehen, wie einige Exemplare davon gestrichen
werden, heißt also nicht dem freien Verfall preisgegeben, sondern
gepflegt und gehütet. Und eine riesige weiße Jugendstilmarkthalle
gibt es, mit Bergen von Quark, Smetana (köstliche russische saure
Sahne), Honig, Butter, Fleisch, Gemüse. Und Berge ringsherum. Zwar
bin ich kaum südlich von Berlin, aber die Kombination von weißen
Neubaublocks und spärlich bewachsenen steilen Hügeln löst
in mir die Vorstellung von Portugal aus, auch wenn ich davon gar keine
Ahnung habe. Denn es ist trocken, jenseits der Wolga beginnt die Steppe.
Die Sonne brennt und brennt, und gäbe es nicht die Klimaveränderung,
würde es wohl den ganzen Sommer nicht regnen. So dagegen ist unser
sonntägliches Picknick schlichtweg ersoffen, und im Winter friert
manchmal nicht mal mehr die Wolga zu, was wohl ein richtiges Verkehrsproblem
darstellt.
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