Text
Bettina Carl
Einleitung
Nishni
Novgorod
Izhevsk
Jekaterinburg
Samara
Saratov
Ausstellung
Text
Peter Funken
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»und«: ein Bericht
aus der Gegenwart für die Zukunft
Im Juli, August und September 2004 bereiste die Berliner Künstlerin
Alena Meier auf eigene Faust mehrere Großstädte im Westen Rußlands,
um sich vor Ort ein Bild von der dortigen Kunstszene zu machen. In Nishni
Nowgorod, Ishewsk, Jekatarinburg, Samara und Saratow lernte sie viele
einheimische Künstlerinnen und Künstler, ihre Produktionsformen
und ihren Alltag kennen. Ergebnis dieser Reise ist das vorliegende Buch.
Bereits der Titel »und« verweist auf den additiven und kombinatorischen
Charakter der entstandenen Arbeit, denn es ging der Künstlerin bei
ihrem Projekt um die Darstellung einer neuen Wahrnehmung, die immer in
Verbindung mit neuen Situationen und dem Kennenlernen bislang unbekannter
Menschen stattfand. Das Wort »und« läßt sich von
daher als ein Begriff der Erweiterung, der Komplexität, des Fortschreitens
und der gemeinsamen Erfahrung begreifen.
Alena Meiers Blick auf die russische Realität war ein aufgeschlossener,
suchender und forschender Blick, und so ist ein ungewöhnlicher Band
entstanden, der von der Kunst, vom Reisen und der Alltagsrealität
in der osteuropäischen Provinz handelt. Ihre Beobachtungen hielt
die Künstlerin in Fotografien und Texten fest, wobei es ihr gelungen
ist, beide Medien in das rechte Verhältnis zu bringen: die Texte
schildern die Erlebnisse und die Chronologie der Reise, sie liefern die
Fakten und handeln von den Begegnungen mit den Künstlern. Die Fotos
vermitteln Stimmungen und Impressionen, sie zeigen Details, die Alena
Meier wichtig und erinnerungswert erschienen. Begünstigt durch ihre
Sprachkenntnisse und natürlich die russische Gastfreundschaft, erhielt
sie differenzierte Einblicke in das Leben und die Kunstvorstellungen sehr
verschiedener Künstler, von denen einige im Westen bekannt sind und
ausgestellt haben, andere sich eher am aktuellen russischen Kunstkontext
ausrichten und viele in einer konventionellen Malereitradition stehen.
Die großen Unterschiede in Hinblick auf ästhetische Positionen
wie auch auf Lebensstile und Lebensstandards entgingen ihr genauso wenig,
wie die ökonomische Komplexität und Problematik, die das Leben
von Künstlern und Kunstinstitutionen im postkommunistischen Rußland
prägt.
In den bisher entstandenen Arbeiten Alena Meiers nimmt das Medium Fotografie
einen besonderen Stellenwert ein. Fotografieren gehört genauso wie
die Arbeit mit plastischen Lichtinstallationen zum Forschungsinteresse
der Künstlerin, bei dem es immer wieder um Themen der Bilderschaffung,
der Projektion, der Spiegelung und der perspektivischen Dimension geht
also um die Realität und Imaginationsqualität von Bildern.
Für die Fotos der Rußland-Reise trat die Künstlerin
so macht es den Eindruck fast zu nah an ihre Objekte (Menschen
und Dinge) heran, so daß Bilder entstanden, die in hohem Maße
subjektiv sind, weil sie sich auf Ausschnitte, Farben und Momente einlassen,
nicht aber nach vermeintlich Objektivem suchen. Das Foto ergibt sich dergestalt
aus dem Zusammenspiel von Einzelteilen oder Fragmenten, die im Sinne einer
Kombinatorik zusammen gesehen und bildnerisch zusammengesetzt werden.
Mit einem vergleichbaren Verfahren arbeitete Alena Meier bei der Konzeption
und Realisierung ihrer Ausstellung im Literaturmuseum Alexej Tolstoj in
Samara. Dorthin war die Künstlerin für drei Wochen als erste
ausländische Stipendiatin eingeladen worden. Sie bezog die Situation
vor Ort mit in ihre Arbeit ein, verwendete unter anderem verschnörkelte
Rahmen aus dem Museumsbesitz, und zeigte ihre Fotografien eher im Sinne
einer installativen denn einer dokumentarischen Arbeit. Die Geschenke,
die sie auf ihrer Reise erhalten hatte, waren als dinglicher Kontrapunkt
in Vitrinen zu sehen. Alena Meier übertrug somit Aspekte ihres fotografischen
Konzepts der Fragmentierung und des Zusammensehens auf die Ausstellung
im Museum und entwickelte dabei eine adäquate Form der Bild- und
Wirklichkeitsrezeption.
Wie immer bei Reisen ins Unbekannte, führte ihre Unternehmung die
Künstlerin wieder zurück zu sich selbst und zu ihren Wahrnehmungen,
denen sie nicht immer und nicht sofort traute, die sie kritisch in Frage
stellte und überprüfte, denn was sie vor Ort erlebte, unterscheidet
sich in vielerlei Hinsicht von dem, was Alena Meier aus Deutschland und
aus Berlin kennt. Gerade diese Kritikfähigkeit und kreative Distanz
machen ihre Texte so lesenswert, denn sie ermöglichen dem Leser,
teilzuhaben an einer Expedition, die keine Vorurteile kennt. Auf diese
Weise kommt es zu einer Form des Kennen-Lernens durch aufgeschlossenes
Zuhören und Hinsehen. An dem Prozess der Verständigung und der
Vergewisserung lässt uns Alena Meier mit ihrem Reisebericht teilhaben.
Sie hat ein Buch geschaffen, das ihre individuellen Erfahrungen für
die Öffentlichkeit sichtbar, lesbar und nachvollziehbar macht, und
damit ist ein Band entstanden, der aus einem fremden Land ein Land der
eigenen Zukunft macht.
Peter Funken
copyright Peter Funken
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